Das Goetheanum
Neunzehn Gespräche zum Vater Unser
Bernd Lampe

Im Gespräch über das Vater Unser

Wer mit der Übersetzung der Apokalypse des Johannes und der Übertragung des Evangeliums des Johannes von Bernd Lampe bekannt ist, und auf den angekündigten dritten Band dieser Reihe "Die Briefe des Johannes" gewartet hatte, wurde - vielleicht - enttäuscht, aber bestimmt überrascht vom Erscheinen seines Buches Neunzehn Gespräche zum Vater Unser.
Nehmen wir also das bescheiden gestaltete, buchbinderisch gediegen gearbeitete, mit Lesebändchen versehene Buch zur Hand: was erwartet uns? Der griechische Originaltext, eine kommentierte Interlinearversion, Hinweise zum Aufbau, zu den Gesetzmäßigkeiten des Gebetes, alternative Übersetzungen? Alles dies finden wir - im Anhang des Buches! Was macht nun den Hauptteil des Buches aus?
Es sind Gespräche, die ein Student und eine Studentin mit einem "Laien" führen, "... der in stiller Zurückgezogenheit seinen Weg geht.", wie es am Anfang des Buches heißt. - Aus der Ferne wirkt durch Briefe noch ein junger Lehrer mit.
Zum Stil des Buches heißt es im Nachwort: "Die Form eines Gesprächs mit novellistischen Charakterisierungen wurde für diese Darstellung gewählt, weil sie erfahren lässt, wie Gedanken als individuelle Suche zu verstehen sind und verschiedene Ansichten sich gegenseitig beleuchten. Auch gehören biographische Situationen und Fehlurteile zum Erkenntnisweg."
Es gelingt dem Autor - durch den Kunstgriff einen künstlerisch-erzählerischen Stil zu suchen - ein Panorama zu entfalten, vor dem sich echte Lebens- und Erkenntnisdramatik miteinander verbinden und urbildlich aussprechen können. Dabei kann er auf alles Belehrende verzichten. Der Leser fühlt sich innerlich belebt und in das Geschehen einbezogen. Er wird an den Wortsinn, den Wort- und Silbenrhythmus des griechischen "Urtextes" herangeführt, zugleich aber auch mit den geistigen Perspektiven der Bitten des Vater Unser vertraut. Nie wird er jedoch als "Ungelehrter" am Fortgang der Gespräche scheitern, weil das Buch ohne die geringsten Vor- oder Griechischkenntnisse zu verstehen ist. Es genügt eigentlich, dass der Leser irgendeine Übersetzung vor Augen hat und den Weg der drei Gesprächspartner verfolgt.
Deshalb wünscht man diesem Buch auch zwei, besser drei Leser, die in verteilten Rollen gemeinsam dem Gang dieser Gespräche nachlauschen, sie nachfühlend besinnen und - wie der Autor sagt, - "... versuchen das Vater Unser in der Sprache ihres Gewissens zu erproben...".
"Was ist erquicklicher als Licht"
Das Gespräch!? Wir brauchen das Licht der Erkenntnis. Das Erquickende des Gesprächs aber ist doch, dass in ihm erst der ganze Farben- und Klangreichtum menschlichen Seelenlebens zur Offenbarung kommt - so wie der Diamant erst im Brillantschliff im Zusammenwirken mit dem Sonnenlicht den ganzen Farbenkreis zur Erscheinung bringt. Und es gehört zu den überraschendsten Ergebnissen dieses Buches, dass der Autor zeigen kann, wie das "Vater Unser" selbst als ein solcher Diamant zu verstehen ist.
So wird das Vater Unser als Meditation, als Gespräch und als Gebet verstanden und erweist sich als ein Grundstein für ein Völker und Religionen umgreifendes und verbindendes Gespräch.


Anselm Gadacz

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