"Erziehungskunst" 9/01
Bewusstseinsaufbrüche in der Literatur des 20. Jahrhunderts.
Die Wiedergewinnung der übersinnlichen Dimension, Christoph Göpfert

Christoph Göpfert ist eine Doppelbegabung!
Die Leser dieser Zeitschrift wissen von den zahlreichen Aufsätzen, in denen er Grundlegendes sowohl für den Deutsch- als auch den Erkundeunterricht ausgeführt hat.
Das erschienene Buch ist nun ein ganz neuer Wurf: eine literaturgeschichtliche und kulturgeschichtliche Untersuchung dessen, was das Wesen der modernen Dichtung eigentlich ausmacht, und damit ein aus anthroposophischer Sicht entwickelter fundierter Beitrag zur Bewusstseinsgeschichte. Göpfert ist Realist. Das Vorwort beginnt mit den Worten: "Die Literatur des 20. Jahrhunderts ist für viele Zeitgenossen ein Feld, das sie nicht gerne betreten." Denn es gilt: "Um zu entdecken, was 'moderne Dichtung' ist, müssen wir vor allem neue Begriffe entwickeln, vielleicht sogar neue Wahrnehmungsorgane" (S.6). Und diesen Weg geht der Autor mit uns, seinen Lesern - allgemein mit Lesern von Literatur. Jedes Kapitel ist ein neuer Schritt, das Blickfeld zu erweitern.
Am Beginn steht eine konzentrierte Darstellung der menschlichen Bewusstseinsentwicklung, von den mythischen Anfängen bis zum Materialismus und schliesslich zur neuerlichen Entdeckung des Geistes in den Künsten Anfang des 20. Jahrhunderts, besonders deutlich in der Musik und den bildenden Künsten zu erleben. Nun wird in der Literatur Schicht um Schicht des vieldeutigen Begriffs 'Moderne' freigelegt.
Zuerst schildert Göpfert ein biographisches Phänomen moderner Dichter: ihre äussere und innere Heimatlosigkeit. Franz Kafka, Nelly Sachs, Paul Celan, Rose Ausländer, Eugene Ionesco, Samuel Beckett und Alexander Solschenizyn zeigen Symptomatisches hierzu in ihrem Lebensschicksal. Nun fragt Göpfert, "was in der Seele von Menschen bewirkt wird, die solche Schicksale erleiden". Und er entdeckt: "Bei aller Verschiedenheit ist ihnen die Todesnähe gemeinsam. Das führt - wie wir heute aus Berichten über Nah-Todes-Erfahrungen wissen - zu einer Lockerung des Seelengefüges. Das Bewusstsein (...) kann Wahrnehmungen aus einem Bereich jenseits der sinnlichen Welt haben". Die Tagebücher Kafkas zeugen davon in eindrücklicher Weise. Im Frühjahr 1911 führte er ein Gespräch mit Rudolf Steiner, um sich Klarheit über seine - wie er sie nennt - "hellseherischen Zustände" zu verschaffen. Auch Eugene Ionesco hatte tiefgehende spirituelle Erlebnisse, ebenso wie Samuel Beckett oder Nelly Sachs und der portugiesische Dichter Fernando Pessoa, dessen Entwicklung ausführlich und eindrucksvoll dargestellt wird.
Wenn es nun gelingt, diese spirituellen Erfahrungen für die literarische Arbeit fruchtbar zu machen, ist - so Göpfert - die entscheidende neue Dimension für die Dichtung gewonnen. "Denn die künstlerische Phantasie ist nach Steiner eine Erkenntniskraft, die unser alltägliches Vorstellungsleben in Richtung auf die übersinnliche Welt hin erweitern kann". Franz Kafkas Werk ist besonders geeignet, diesen Blickwinkel zu belegen. Seiner Prosa ist deshalb ein langes, subtil beobachtendes Kapitel gewidmet mit der entscheidenden Tagebuchnotiz als Schlüssel der Interpretation, dass es sich nämlich bei allen seinen Erzählungen um eine Darstellung seines "traumhaften inneren Lebens" handele.
Exkursartig wird nun die Umwelt des heutigen Menschen (und Dichters) betrachtet: von der Technik bestimmt, als Individuum anonym in der Grosstadt, ständig vom Verlust des Menschseins bedroht. So entsteht eine weitere seelische Befindlichkeit des Menschen: Einsamkeit und Seelengefangenschaft. Beispielhaft wird dies an Marlen Haushofer ("die Wand") aufgezeigt. Und es zeigt sich, wie die anfangs als negativ erfahrene Isolation und Grenzerfahrung zu etwas Neuem führen kann: einer "reinen Wahrnehmung" einem "erhöhten Ich-Gefühl". Besonders in der absurden Dichtung wird diese Art der Öffnung des Bewusstsein dargestellt. Als Zwischenergebnis kann Göpfert deshalb konstatieren, dass "für die moderne Dichtung (gilt), dass sie uns nicht eigentlich etwas mitteilt, sondern uns beunruhigen, verunsichern will. Sie wirft Fragen auf, für die keine Lösungen angeboten werden. ...der moderne Dichter sagt nicht, was er weiss, sondern fragt dich, was du weisst."
Die folgenden Kapitel begleiten nun solche Grenzgänger-Dichter, die sich der Schwelle zum Übersinnlichen nähern. Neben Ingeborg Bachmann sind es Werke von Doris Lessing und erneut von Eugene Ionesco. Rückgriffe auf die alte Geistigkeit der Mythen, ja sogar die Erschaffung neuer Mythen kennzeichnet das literarische Bemühen einiger Autoren. Oder sie tauchen unter in tiefe innere, bislang verborgene Seelenschichten.
Da nun gelingt es einigen, die Schwelle zu überschreiten. In dem Kapitel "Die Welt der Toten" stellt Göpfert drei sich steigernde Beispiele eindrucksvoll dar: Marie Luise Kaschnitz' "Schiffsgeschichte", Ionescos Stück "Der König stirbt" und den aussergewöhnlichen Roman "Watt" von Samuel Beckett, der nicht nur das Sterben und den Übertritt in eine andere Welt (Kaschnitz und Ionesco) beschreibt, sondern den Leser selber verändert: "Im Lesen des Beckett-Textes werden wir selber verändert, erschliesst sich uns zart ein Organ für geistige Wahrnehmungen".
Damit sind wir bei der entscheidenden Erkenntnis der vorliegenden Studie angelangt, dass nämlich die "Berührung mit der spirituellen Welt" das eigentliche Thema der modernen Dichtung ist. Umgekehrt liesse sich sagen, dass eine Dichtung, die diese Dimension literarisch adäquat erreicht, im eigentlichen Sinne "modern" ist.
In besonders gesteigerter Form ist dies in der Lyrik möglich. Und so beschliesst Göpfert sein Werk mit einer langen, einfühlsamen Darstellung der "drei freistehende(n) Bäume" - wie er sie nennt - Nelly Sachs, Paul Celan, Rose Ausländer sowie einiger Dichter(innen), die ihnen nachfolgten. Hier nun zeigt sich, wie fruchtbar der bislang entwickelte Ansatz ist. Die zahlreichen, meist vollständig abgedruckten Gedichte sind Bewusstseinsaufbrüche, sie künden in ihren Wortgefügen und Metaphern von einer übersinnlichen Dimension, und Göpfert versteht es meisterhaft, sie nicht ermüdend auszudeuten, sondern lediglich mit wenigen genauen Bemerkungen auf das Wesentliche zu deuten, Fingerzeige zu geben, hinzuweisen...
Mit diesem (zudem äusserst ansprechend gestalteten) Band liegt ein wichtiger Beitrag zur Literatur- und Bewusstseinsgeschichte vor. Und lang ist die Leseliste des Literaturfreundes geworden: mit dem, was neu, und dem, was erneut gelesen werden will.


Klaus Rohrbach
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